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Titel
Germany's Conscience. Friedrich Meinecke: Champion of German Historicism


Autor(en)
Krol, Reinbert
Reihe
Time – Meaning – Culture (8)
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Corsten, Institut für Zeitgeschichte München – Berlin

Reinbert Krol, Historiker an der Universität Groningen, hat seine von Frank Ankersmit betreute Dissertation unter dem Titel „Germany’s Conscience. Friedrich Meinecke: Champion of German Historicism“ als Buch veröffentlicht – eine weitere Abhandlung über Meineckes Wirken, könnten Historiker:innen einwenden. Krol jedoch wählt eine spezifische Perspektive, indem er ein „desire for reconciliation“ in Meineckes Arbeiten untersucht (S. 11). Die Darstellung folgt der zeitlichen Reihenfolge von Meineckes Schriften. Krol stützt sich vorrangig auf die Werke „Weltbürgertum und Nationalstaat“ (1908), „Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte“ (1924) und „Die Entstehung des Historismus“ (2 Bde., 1936). Daneben untersucht er die Bedeutung Goethes für Meinecke, seine Autobiographie „Erlebtes, 1862–1901“ (1941) und „Die deutsche Katastrophe“ (1946). Ziel der Studie ist es, Meineckes Denken und dessen Relevanz in Bezug auf den Historismus zu erklären und aufzuzeigen, was wir davon lernen können. In diesem Sinne ist auch der Titel „Germany’s Conscience“ zu verstehen. Krol will das Konzept Gewissen bei Meinecke herausarbeiten und den Doyen der deutschen Geschichtswissenschaft gleichzeitig als Gewissen Deutschlands darstellen.

Mit dem Forschungsstand zum Leben und Wirken Friedrich Meineckes (1862–1954) setzt sich Krol intensiv auf beinahe 30 Seiten auseinander. Dabei erklärt er, wo er mit anderen Autor:innen übereinstimmt, über sie hinausgeht oder von ihnen abweicht. An Meineckes Werken geäußerte Kritik behandelt er jedoch teilweise verkürzt, etwa, wenn er diejenige des deutsch-amerikanischen Historikers Georg G. Iggers vorstellt. Iggers hatte sich in verschiedenen Arbeiten der 1960er- und 1970er-Jahre mit dem Historismus beschäftigt und diesem eine intellektuelle Verantwortung für das Erstarken der nationalsozialistischen Ideologie zugeschrieben.1 Krol merkt dazu an, dass Meineckes Interpretation des Historismus viel mehr enthalte als von Iggers impliziert. Dieses „Mehr“, wie auch diese Debatte selbst, greift Krol an späterer Stelle zwar noch einmal auf, geht aber nicht hinreichend auf Iggers’ Kritik ein. Da es sich hier um einen zentralen Vorwurf gegen den Historismus auch im Zuge der Reformierung der deutschen Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit handelte, wäre eine nähere Auseinandersetzung wünschenswert gewesen.

In den chronologischen Abschnitten zu Meineckes Werken konzentriert Krol sich ab Kapitel 1 auf dessen Vorstellungen zu Macht und Kultur. Wie genau Krol bzw. Meinecke den Begriff „Macht“ versteht, ist nicht klar umrissen. Gemeint ist vor allem die Macht politischer Führungsfiguren wie Bismarck. Zentral ist für Krol, mit welchen Denktraditionen sich Meinecke auseinandersetzte. Aus der Beschäftigung mit Johann Gottfried Herders Konzept eines „nationalen Gewissens“ leitete Meinecke etwa seine Vorstellung einer Kulturnation ab, die auf einer einheitlichen Sprache, Religion und Literatur basiere. Nationalstaaten könnten aus einer Kulturnation hervorgehen. Krols Beschreibungen und Gedankengänge sind dabei äußerst voraussetzungsvoll. Da er sich auf Konzepte verschiedener Denker bezieht, die aus Gründen des Umfangs nur selten breiter erläutert werden, ist die Lektüre für ein Publikum außerhalb der Philosophie- und Intellektuellengeschichte mit Schwierigkeiten verbunden. Auch der Rückbezug zu Meineckes Wirken und zur Ausgangsproblematik des Buches wird dadurch teilweise schemenhaft. Fehlende bzw. sehr abrupte Überleitungen zwischen den Unterkapiteln zwingen die Leser:innen dazu, sich Zusammenhänge eigenständig zu erschließen. Das Verhältnis von Macht und Kultur in Meineckes Werken zieht sich auch durch Kapitel 2 und 3. Spannend sind dabei die von Krol herausgearbeiteten politischen Ereignisse, die Meineckes Konzeption beider Begriffe prägten und veränderten. So zeigt Krol etwa, dass Meinecke vor dem Ersten Weltkrieg von einem andauernden Konflikt zwischen Macht und Kultur ausging, nach 1918 jedoch „Harmonie“ zwischen beiden propagierte (S. 133).

In der zweiten Hälfte des Buches widmet sich Krol ausführlich der Beschäftigung Meineckes mit dem Historismus. Seine Stellung in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus sowie die politischen Umbrüche in Meineckes Denken werden dabei nur angerissen. Der Fokus bleibt die Frage nach den intellektuellen Einflüssen auf Meineckes Denken. Einen Schwerpunkt bildet in Kapitel 4 die Kritik an Meineckes Konzeption des Historismus, die Krol gestützt auf dessen Auseinandersetzung mit Benedetto Croce in den 1930er-Jahren behandelt. Krol zufolge lagen die Hauptunterschiede der beiden Denker in ihren Vorstellungen des Metaphysischen. „Croce started thus from a concrete historical rationalism, while Meinecke preferred a historically ‚irrational‘ theory of understanding.“ (S. 168)

Kapitel 5 verfolgt Meineckes Auseinandersetzung mit Goethe, die für ihn seit der in den 1920er-Jahren verstärkt einsetzenden Krise des Historismus relevant wurde. Eine wesentliche Leistung Krols ist es dabei, herauszuarbeiten, in welcher historischen Situation die Forderung nach „Goethegemeinden“ für Meinecke wichtig wurde. Spannend ist zudem die Behandlung des „twofold character of the daemonic“ bei Goethe (S. 199). Das Dämonische könne aufgrund seiner Unvernunft nicht gottgleich, aber auch nicht menschlich sein. Goethes Charakterisierung des Dämonischen übertrug Meinecke auf den zweiseitigen Charakter der Natur – „a ‚human‘ moral nature and a ‚metaphysical‘ amoral nature“. Auf diese Weise, so folgert Krol, gelang es Meinecke, eine teuflische Dimension von Geschichte anzuerkennen, sie aber gleichzeitig zu „entwaffnen“ („disarm“ im Original, S. 203), da er an die transzendente Autorität eines Gottes glaubte. Nach den Passagen intensiver theoretischer Erläuterung ist es immer wieder eine Stärke von Krols Erzählweise, Briefwechsel mit Zeitgenossen einzuarbeiten, die das zuvor Beschriebene veranschaulichen.

Kapitel 6 behandelt die Veränderungen der politischen Situation in Deutschland ab den 1930er-Jahren und deren Auswirkungen auf Meineckes Denken. Krol arbeitet anknüpfend an das vorherige Kapitel die Relevanz des Goethe-Rückbezugs bei Meinecke als Lösung des Kulturbruches heraus. In der Beschäftigung mit Goethe habe Meinecke Zuflucht gefunden. Merkwürdig erscheint in diesem Kontext, dass Krol Meinecke als „refugee“ bezeichnet (S. 247). In welcher Hinsicht Meinecke, der seine öffentlichen Ämter im Nationalsozialismus zwar niederlegte und im Frühjahr 1945 aus Berlin nach Süddeutschland übersiedelte, Deutschland aber nicht verließ, ein Geflohener gewesen sein soll, ist unklar und wird nicht weiter spezifiziert. Krol beschäftigt sich in diesem Kapitel zudem intensiv mit „Die deutsche Katastrophe“ – dem Werk, in dem Meinecke den Nationalsozialismus unmittelbar nach dessen Ende als Naturkatastrophe darstellte (mit Blick auf das Jahr 1933, weniger auf Zusammenbruch und Befreiung von 1945), nicht aber die Frage von Schuld diskutierte. Damit wurde er laut Krol zum „‚autobiographer‘ of the history of Germany“ (S. 260).

Krol erläutert viele verschiedene Facetten von Meineckes Wirken, seine Auseinandersetzungen mit anderen Denkern und die Veränderungen seiner Perspektive auf den Historismus. Dabei setzt er sich intensiv mit Meineckes Vorstellungen von Freiheit, staatlicher Macht und Moral auseinander. Krol zeigt so die zeitgenössische Relevanz von Meineckes Geschichtsverständnis auf. Stellenweise fehlt dabei jedoch die kritische Distanz zur Hauptfigur. Bereits in dem Untertitel „Champion of German Historicism“ und in der Einleitung wird eine gewisse Bewunderung für Meinecke deutlich, die sich durch die Studie zieht. Eine analytische Distanz beizubehalten, mag bei der Bedeutung des Protagonisten für die deutsche Geschichtswissenschaft schwierig sein. Möglicherweise wäre es daher hilfreich gewesen, stärker zu hinterfragen, welche Perspektiven durch den Fokus auf das Wirken Meineckes als Protestant, Preuße und Mann eingenommen und welche ausgeblendet werden. So deutet Krol den Kreis jüdischer Schüler:innen um Meinecke an, ohne auf dieses intellektuelle Netzwerk weiter einzugehen. Vielmehr knüpft er daran eine kurze Auseinandersetzung mit Meineckes „moderate[m]“ Antisemitismus (S. 232). Dieser habe sich durch die Zusammenarbeit mit jüdischen Intellektuellen vermindert, sei aber nicht ganz verschwunden. Als Belege zitiert Krol Selbstaussagen Meineckes. Da Antisemitismus bei Meinecke bisher nur ansatzweise diskutiert wurde, wäre eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem Thema wichtig gewesen.2

Dies wäre auch im Zusammenhang mit Krols Darstellung von Meinecke als „Gewissen Deutschlands“ geboten, dessen Werk die Sehnsucht nach Versöhnung durchziehe. Krol deutet Meineckes ausbleibende Beschäftigung mit den Themen Holocaust und Antisemitismus zwar an, setzt diese aber – erstaunlicherweise – nicht in Verbindung mit seinen Leitthemen Gewissen und Versöhnung. Eine kritische Auseinandersetzung darüber, was es bedeutet, jemanden zum „Gewissen Deutschlands“ zu erklären, der nur bestimmte Aspekte der deutschen Kultur vertrat, bleibt aus. Gerade vor dem Hintergrund der angerissenen Antisemitismus-Diskussion ist das unbefriedigend. So passt Reinbert Krols Stilisierung Friedrich Meineckes zum „Gewissen Deutschlands“ zwar in den Zeitgeist der frühen Nachkriegsära; sie trägt aber nur begrenzt zu einer nuancierten Auseinandersetzung mit diesem Zeitgeist 75 Jahre nach Kriegsende bei.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. Übertragung aus dem Englischen von Christian M. Barth, München 1971, durchgesehene und erweiterte Ausgabe Wien 1997.
2 Siehe etwa Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933, Frankfurt am Main 2011; kommentiert von Wolfgang Wippermann, Reiner Neid?, in: Jüdische Allgemeine, 15.08.2011, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/reiner-neid/ (12.11.2021).

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